Lückenknüllerkids
+ Schlüsselbilder
Vorwort zur Edition
anlässlich Ausstellung im Kunstmuseum Erlangen, 30. Mai
bis 13. Juni 2010, und
Messestand im COMIC-SALON Erlangen 2010
... Kunst für den Hausgebrauch. Ich wurde 1948 in Lübeck
geboren; als kleines Kind Ostsee-Impressionen, unwissend, dass
Krieg gewesen war, Vater Flüchtling, er sprach nie darüber.
1952 Umzug über Frankfurt nach Hamburg, Kinder in Ruinen
bei wilden Indianerspielen gesehen, Teile meiner Familie stammen
aus Böhmen und aus der Oberpfalz. Böhmen liegt am Meer.
Im weit verästelten Stammbaum meiner Familie finden sich
sprachliche Begabungen, darunter ein sehr bekannter Schriftsteller,
mein Vater, der Chirurg war, malte auch ab und zu, erzähle
gerne, er hatte eine Kinder-Verwirr-Fantasie.
Die Familie kehrte auf ihrer genetischen Spur 1954 in die Oberpfalz
zurück, in eine weltverlorene Wald-Region, durch die ein
Flüsschen, die Waldnaab strömte, eigentlich war es
ja der Mississippi, hier Bilder-Buch-Kindheit in Wöllershof
im Landkreis Neustadt/ Waldnaab, das damals Lungen-Heilstätte
war, vorher Psychiatrie, Jugendstil-Gebäude, Park mit alten
Bäume, Kastanien, Eichen, Birken, Buchen, Ebereschen, eine
Atmosphäre wie auf dem „Zauber-Berg“.
1969 Abitur in Weiden, von 1972 bis 1976 studierte ich an der
Akademie der Bildenden Künste in München bei den Professoren
Reimer Jochims und Jürgen Reipka, bei ihnen lernte ich
Malerei im Spannungsfeld von Konkretion und Expression kennen,
die unterschiedlicher
nicht sein konnte.
Dabei faszinierte mich nachhaltig die Identitäts-Theorie
von Jochims, eine philosophische Farb- und Formlehre, die auch
in enger Verbindung mit Fragen nach der Rolle der Kunst im sozialen
Zusammenhang stand. Außerdem verlangte sie nach Haltung.
Eine Einstellung war gefragt, wie sie im Zen-Buddhismus oder
bei den Mystikern Meister Ekkehard und Jakob Böhme zu Hause
ist. Die künstlerische Aufgabe wäre, die Ursprünglichkeit
des Bildraumes jenseits vorgegebener Inhalte erfahrbar zu machen,
dafür galt es zwischen Bildträger - und Bild- Wirklichkeit
die höchstmögliche Übereinstimmung herzustellen,
die Farbe war in ihrer Eigenheit als flächiges, selbst leuchtendes,
dynamisches Medium zu realisieren, Grundlage wären die Gesetze
farbiger Interaktion, weiterhin die Umsetzung der Flächen-
bzw Raum-Eigen-Struktur als Farb-Form, in diesem Sinne beschränkte
sich der Jochims-Kreis, soweit ich ihn kennen lernte, kompositorisch
auf die Struktur-Schemata der Elementar-Formen, in reiner ebenso
wie in gemischter Form, mit harter ebenso wie mit gebrochener
Kante. Beeindruckende Kolossal-Form-Beispiele finden sich in
der Kirchenmalerei von Paul Meyer - Speer. Für Jochims hatte
ein Kunstwerk ein „Psychotop“ zu sein, in dem die
Praxis freien Sehens eingeübt werden könnte.
Auch Reipkas Malerei bewegte sich formal in einem engen Organisations-Rahmen,
da traten immer wieder dieselben zwei, drei impulsiv-gestischen
und überlegt-konstruktivistischen Elemente in Verbindung.
Die Begrenzung auf die Struktur-Schemata von Schichtung, Reihung
und Durchdringung schuf dabei ein Spielfeld, das wie bei einem
Brett-Spiel unendlich viele Zug-Kombinationen und Variationen
ermöglichte.
In beiden Fällen interessierte mich das Schema-Thema,
und zwar jenseits der bildnerischen Sub-Themen Farbe und Form,
Muster
und Variation. Dort, wo sich die visuelle OrdnungsForm als
geistige Schwelle zwischen dem sinnlichen Erfahrungs-Bereich
des Bildes
und dem abstrakten Wissens-Bereich des Begriffs platziert,
steckte ich meinen Claim ab.
Seit 1980 arbeite ich an einem Gymnasium in Weiden/ Oberpfalz
(Autokennzeichen WEN) als Kunstlehrer. Dank der Verbeamtetheit
war ich aller materiellen Sorgen enthoben und sah keine Notwendigkeit,
als Kunsterzieher-Künstler den freischaffenden Kolleginnen
und Kollegen Konkurrenz zu machen, dem entsprach die Aufteilung
meiner schöpferischen Energie, ich wurde, um mit Beuys zu
sprechen, „sozialer Plastiker“, die prächtigsten
Blüten der Liebe zur Kunst blühten im Garten der Kunstvermittlung
und der Sorge dafür, dass künstlerische Denk- und
Handlungsmuster an Boden gewinnen.
1993 Gründung des Kunstverein Weiden, verdient als Plattform
regionaler künstlerischer Nachwuchspflege, 1999 Gründung
der Kulturkooperative KoOpf, 1982 bis 2002 war ich auch Vertreter
alternativer und Grüner Politik: als Mitglied der Bürgerinitiative
gegen eine Wiederaufbereitungsanlage für atomare Brennstäbe
(WAA) in der Oberpfalz, als Kreisrat im Neustädter Kreistag
und als Weidener Stadtrat.
Eigene Kunst gedieh in den Mauerritzen familiärer und politischer
Anlässe und persönlicher Lebens-Gestaltungs-Rituale,
diente da der Akzentuierung von Beziehung und Lebensfreude.
In diesem Sinne verfasste und illustrierte ich 1996 eine Hausordnung
für meine drei eigenen Kinder Daniel, Benjamin, Sophie und
meine Ziehtochter Maria. Aus ihren Abbildern in dieser Gelegenheitsarbeit
entwickelten sich die Lückenknüller-Kids, Wesen der
Welt von EveryWEN, einem Klein-Planeten + Stadt-Staat, wo „Niemand
erwaxen wird, aber alles auf eigene Art Hand und Fuß hat “.
Manche finden, dass die Leiber meiner Comic-Figuren wie Blumentöpfe
aussehen, das gefällt mir, Blumentöpfe kommen in meinen
Geschichten öfters vor, sie haben für mich eine besondere
Magie, die Körper-Formen der Figuren aber haben sich als
Befreiungsversuch des Künstlers Wolfgang Herzer von seinen
Bindungen an die Konkrete Kunst entwickelt, die 1972 noch als
Rückkehr des Welt-Kunst-Geistes zu sich selber ausgewiesen
werden konnte, zum einen, und zum anderen stammen sie aus Erinnerungen
an Kinderspiele, vor allem die meines kleinen Bruders, er und
sein Busenfreund B. haben Steiftiere gehabt und mit denen haben
sie folgendermaßen gespielt, die Tiere sind ja nicht von
selber gegangen, sie mussten bewegt werden, dazu wurden sie wie
Stempel in der Hand gehalten und über Hunderte von Kilometern
auf den Boden geklopft, solange wie die Abenteuer halt dauerten
und bis die Tiere am Ziel angekommen waren, irgendwann waren
die Stoffbeine platt, was die Spielfreude nicht minderte, es
ist diese intensive haptische Verschmelzung, die in meinen Figuren
Form gefunden hat, und dann noch das Bild der Brett-Spiel-Steine,
wie sie bei Dame und Mühle verwendet werden, mit den Lückenknüllerkids
ist man auf dem Spielbrett des Lebens, form follows function.
Heureka, Hurra, ich hatte es geschafft.
Die Hände, die hier Bewegung bringen, tauchen als eigenständige
Figuren in den Geschichten auf, als höhere Gewalt, öffentliche
Hand, Rechte und Linke Hand etc. Daneben sind viele andere
Figuren entstanden, sie vermehren sich, der Kosmos EveryWEN
expandiert.
Am Anfang aber war eine mehrfach gebogene Strichform gewesen,
in ihr hatte ich die knappe Form, die Formel, die Welt- und
Zauberformel gefunden gehabt, die alles hervorbringt, wonach
ich mich sehne,
sie erweckt das Unvorstellbare aus dem Nichts zum Leben, sie
garantiert minimalen Material-Aufwand, haiku-klitzi-kleine
Kosten, Ursache solcher Maßgaben mag unser sparsamer Nachkriegshaushalt
gewesen sein, in dem ich wie ein Bonsai-Bäumchen aufgewachsen
bin, ein starker Einfluss-Faktor, der sich bis in den Stil der
Kinderspiele ausgewirkt hatte, war die Furcht vor unnötiger
Verschwendung, jetzt endlich hatte ich den Raum gefunden gehabt,
dem wie aus Pelles Schnabel in „Petzis Abenteuer“ alles
zum Dasein Notwendige zu entnehmen ist, es ist das Haus von
Nikolaus.
Das Haus vom Nikolaus ist ein Zeichenspiel und Rätsel für
Kinder. In der Mathematik spricht man von einem Eulerkreis oder
(geschlossener) Eulerzug (auch Eulertour oder Eulersche Linie).
Unter kulturgeschichtlichem Blickwinkel lässt sich von einem
Mandala sprechen, dem Ergebnis eines Malrituals, wie es in buddhistischen
ebenso wie im indianischen Kulturkreis Brauch ist, es wird häufig
mit Sand ausgeführt, nach seiner Vollendung in der Regel
beseitigt. Mandalas lassen sich im philosophischen Zusammenhang
als Epiphanien verstehen, als die Sichtbarwerdung individueller
und kollektiver Urbilder oder Archetypen, die sich im Dasein
verbergen.
Blockaden, unter denen die lebenssteigernde Kraft der Archetypen,
der psychologischen Strukturdominanten des Menschen stagniert,
sollen dabei aufgehoben werden.
Ein Eulerkreis wie das Haus -Zeichenspiel ist ein Zyklus, der
alle Kanten einer Punkte-Menge (Graph) genau einmal enthält.
Ein Zyklus oder Kreis ist in der Graphentheorie eine Folge verschiedener
Kanten, deren Start- und Endknoten identisch sind. Ziel des besagten
Zeichenspieles ist es, ein „Haus“ in einem Linienzug
aus genau 8 Strecken zu zeichnen, ohne eine Strecke zweimal zu
durchlaufen. Begleitet wird das Zeichnen mit dem simultan gesprochenen
Reim aus 8 Silben: „Das ist das Haus vom Nikolaus“.
Was mich dabei besonders beeindruckte, war widersprüchlich.
Das Hochgefühl, wenn es gelang, das Haus zu vollenden.
Und der Umstand, dass ich mir den scheinbar so einfachen Weg
einfach
nicht merken konnte.
Dass ich mit der Welt von Mathematik, exakter Naturwissenschaft
und Formalem überhaupt auf dem Kriegsfuss stand, erlebte
ich nicht nur hier. Doch hier gab ich nicht auf. Im Laufe der
Jahre gab es immer wieder Versuche, den Eulerkreis auswendig
zu lernen und damit besagtes Hochgefühl zu domestizieren
und dauerhaft verfügbar zu machen. Jedes Mal musste der
Bau ohne besondere Fortschritte wieder eingestellt werden. Das „Haus
von Nikolaus“ schien eine ewige Baustelle bleiben zu
wollen. Auf`s Ganze gesehen allerdings nur einer von vielen
kleinen Kratzer
im Lack.
In meinem 5. Lebensjahrzehnt aber bekam dieses Nicht-Gelingen
produktive Qualität. Es hatte System, und das hatte es unterschwellig
wohl immer schon gehabt. Das „Haus von Nikolaus“,
das sich nicht abschließen ließ, präsentierte
sich mit einem Mal nicht mehr als Ereignisfeld eines Ungenügens
sondern als das eines Vermögens.
Ich hatte seit meiner Studienzeit im Themenbereich Schema und
Variation experimentiert, zeichnerisch, malerisch, performativ,
landartmäßig, in den 1990er Jahren standen Umrissformen
im Zentrum, die ich unmittelbar von realen Gegenständen
abgegriffen hatte, dazu kamen dann unterschiedliche Bearbeitungen,
die auf die Bewegungs-Impulse der Formen, auf die Methode des
Blindzeichnens und anderes Bezug nahmen, das die nächste
Nähe zum Gegenstand und zu dessen bildnerischen Eigen-Potenzialen
ermöglichte, hier aber nicht weiter erwähnt werden
muss.
Es waren unter anderem die einfachen aber signifikanten Formen
von Stein, Feder, Schere, Hand, Hammer, Nagel, Schraube, Kronkorken,
Gummiband, die zu Objekten der Auseinandersetzung wurden. Alles
in der Absicht, eine Phänomenlogie der kleinen, bedeutungslosen
Dinge zu schaffen, und immer im Reflexions-Gestus des Rituals,
in dem das einzelne noch als Torso des Welt-Ganzen zur Erscheinung
kommen konnte, wie es Rilke in seinem Ding-Gedicht „archaischer
Torso Apollos“ darstellt, mit dem berühmten Link zur
Lebenswelt: „Du musst Dein Leben ändern“.
Als besonders ergiebig erwies sich die Auseinandersetzung mit
der Form des Hammers. Ohne danach gesucht zu haben, offenbarten
sich auf einmal die vielfältigen, wechselseitigen Übereinstimmungen
zwischen dem Hammer, der durchgehenden Einzel-Form-Linie, und
dem Haus des Nikolaus, dem Einzel-Linien-Bewegungs-Programm,
das in einem Ganzen endet, vielleicht die Formel für ein
Weltgebäude, wenn man es nur richtig anstellt. Und ich
wusste jetzt, wie ich es anzustellen hatte, nach meiner Art,
in einer
erweiterten Art.
Es entstand jetzt nicht mehr ein Haus im Sinne des Abbildes,
es entstand nach der Haus-Zeichenspiel-Methode all das, was
im HausSchema selber verborgen bleibt, aber sein Wesen ausmacht
und das Bauwerk mit Leben erfüllt: Klaus hatte jetzt nicht
nur ein Haus, sondern auch Katzen, Kinder, Hüte, Schiffe,
Männer, Frauen, Liebespaare, Raucher, Fußballer, Mörder,
Tassen. Und in allem steckte der genetische Code, das graphische
Grund-Muster, aus dem sich das Ganze im Einzelnen immer wieder
nachbilden würde.
Wie ging das vonstatten?
Der Hammer lieferte die Form-Vorgaben im Detail (Zigarette,
Fuß,
Nase etc) und deren Verbindungen ( die ganze Figur) dafür
auf zwei Wegen: in seiner Ruhe-Form und in seiner Bewegungs-Form.
Da war die Kombination aus Rechteck und Dreieck im Metallkopf
des unbewegt daliegenden Hammers, eine Form, die nicht nur dem
Haus entspricht sondern auch Form-Komponente vieler anderer Gegenstände
ist, Ohren, Nase, Katzen-Pfote, Finger z.B. Da war der rechte
Winkel an der Verbindung zwischen Hammer-Stil und Hammer-Kopf,
und da war die Mobilität des Zeichenspiels in ungebundener,
in offener Form, wenn der Hammer unter dem Andrang der Bleistift-Spitze
aus seiner Ruhelage befördert wurde. Von der Schwere des
Metallkopfes gebremst, aber nicht befestigt bewegte sich der
Stil dabei in der Art eines Gleit-Zirkels und gab je nach Geschwindigkeit
und Druck-Stärke – und Richtung alle nur möglichen
Rund-Formen her. Dabei erhielten Linien und Schraffuren einen
gestisch wilden und gleichermaßen eleganten, kultivierten
Ausdruck. Das waren die Bausteine. Der Bauplan, der alles zum
Ganzen fügen sollte, bzw die Regel des Zeichenspieles bestimmte,
dass die Ausführung der Detailformen wiederholbar sein muss,
ebenso die Reihenfolge, in der sie aneinandergereiht werden,
und dass der ganze Zeichenvorgang aus einer zusammen hängenden
Kombi-Bewegung von Hammer und Bleistift zu erfolgen hat. Ich
bin Rechtshänder. Mit der linken Hand half ich den Schub
der Bleistiftspitze zu modifizieren.
Für das Mandala-Bild-Schema bzw das begriffliche Schema
der mythischen Erzählung, die meine Arbeiten im Horizont
der persönlichen Lebenserfahrungen reflektieren, ist das
Bild- bzw das Text-Produkt eher marginal, die eigentliche Qualität
der Darstellung liegt in ihrem performativen Charakter, in Akt
und Ereignis des Zeichnens, Malens und Erzählens. Ihre
tanzschrittartigen Wiederholbarkeit oder Fertigbauweise gehorcht
dem Gebot der Ereignis-Form.
In dem Zeitraum, in dem meine Auseinandersetzung mit Schemata
und Schablonen aus der offenen Komposition und aus der Flucht
endloser Variationen herausgefunden und ihre Matrix gefunden
hatte, öffnete sich mit dem anhaltenden Auftauchen bildgenauer
Erinnerungen aus verschiedenen Lebensphasen ein neues Themenfeld.
Erinnerungsbilder meiner Kindheit und aus dem Leben mit den
eigenen Kindern, die sich als Eckpunkte meines mentalen Lebens
einrichteten,
erhielten auf dem Weg der Hammer + Haus-Methode eine manchmal
hundertmal und mehr reproduzierte Mandala-Gestalt.
Es entstehen ab 2002 Szenen wie „das erste Zelt aus einer
Decke und einer Wäscheleine“, wie „der Brunnentrog
im Schatten eines Kirschbaumes“, es kehren Augenblicke
zurück wie „das Aufwachen neben dem kleinen Sohn,
der noch tief schläft“, wie das „jähe Erkennen,
dass man das Tier, das man retten wollte, getötet hat“.
Die Präsentation dieser Bilder erfolgte auf so genannten
Formular-Blättern. Diese bestanden aus Rubriken und Rahmen,
die nach derselben Hammer+Haus-Methode hergestellt waren. Neben
Haupt-Bildern und Neben-Bildern, die mit Foto-Ecken befestigt
wurden, traten unter dem Titel „Schlüsselbilder meines
Hauses“ auch knappe beschreibende Texte in Erscheinung.
Einen besonderen Anstoß für diese mandalaartige
Bilderfolge hat der Tod meines Freundes Tom Argauer gegeben.
Wochenlang wiederholte ich das Bild, das sich aus einer einfachen
Strichform-Folge hatte entwickeln lassen. Ich befand mich im
Zentrum des Schmerzes, wie im Auge des Hurrikans war es dort
ruhig.
Ebenfalls in einer Art Formular bzw in der Form eines Emblems,
der ursprünglich barocken Kunstform, die Bild und Text in
sich gegenseitig interpretierender Weise verbindet, werden die
Geschichten der Lückenknüllerkids gezeigt. Jedes Formular
enthält einen Streifen mit drei Bildern und ein Text-Feld.
Als graphisches Bild-Motto und ethischer Grundsatz erscheint
in der obersten Zeile die Schlange Liberty. Das ist die Stelle,
die im dreiteiligen barocken Emblem „Lemma“ heißt.
Und Liberty sagt: So wird hier gezeichnet, so wird hier gelebt!
Der trappistische Ernst konkreter Kunst verflüssigt sich
zum fröhlichen Palaver.
1996 aus pädagogischen Gründen ins Leben gerufen, später
zur Unterhaltung der Kinder und zur eigenen Freude fortgeführt,
stehen die Lückenknüller-Kids heute mit rund 20 kürzeren,
längeren und langen Geschichten im Mittelpunkt meiner künstlerischen
Arbeit. Was das Privatvergnügen von mir, meiner Frau, meinen
Kindern und Freunden war, und wohin ich uns als den eigentlichen
Autor, den selbst wir nicht wirklich kannten, eine geheimnisvolle
arabisch-amerikanische Person imagnierte, Omar Sheriff, den Jungen
oder das Mädchen mit der Tüte über dem Kopf, hat
mittlerweile einen Umfang bekommen, der von sich aus an die Öffentlichkeit
drängt.
Omar Sheriff betrat 2001 die Bühne und outete sich als Autor
aller vorhergegangenen Geschichten. Zum Beweis begann er vor
meinen Augen die Geschichte „Im Alter“ I und II zu
verfassen. Hier wurde die Herkunft des Namens „Lückenknüller“ erklärt.
Omar Sheriff trat auch selber auf. Auch in den folgenden Geschichten „ Der
schwebende Wald“ und „Der Aufstand der Dosen“ beteiligte
er sich an der Handlung. Die Geschichten wurden länger,
länger. „Der Aufstand der Dosen“ wurde 2007
in der psychosomatischen Klinik Bad Grönenbach begonnen,
wo sich der Autor wie Robert Walser fühlte, und ist heute
noch nicht beendet.
Eines Tages klopfte Omar Sheriff bei mir an und sagte: „Wir
gehen raus!“
Glücklicherweise stand der Kurator des Kunstmuseums Erlangen,
Dr. Jürgen Sandweg, in der Nähe. Er hörte mit.
Wir gingen raus.
Die Kerngruppe der Lückenknüllerkids, die uns anführt,
besteht aus Torsos, kann man sagen, sie haben weder Arme noch
Beine, und es lässt sich ebenso schnell erkennen, dass sie
dem Spielbrett des Lebens, der Matrix bestens angepasst sind
und ihren Weg machen. Eigentlich braucht man gar keine Arme und
Beine, trotzdem sind die Frage nach dem Auf-Den-Eigenen-Beinen-Stehen
und die Frage nach dem Verhältnis der Rechten zur Linken
Hand in allen Geschichten die großen Beweger.
Du musst Dein Leben ändern, Neues anpacken, Frisches auspacken, Überraschendes,
Unmögliches, Verrücktes gilt es zu wagen! Vertraue
der Matrix! Impulse entspringen Wortspiel, Metapher und Kalauer
ebenso wie der graphischen Laune, alles folgt einem grundlegend
anarchistischen Naturell.
Bis 2005 wurden die Bilder mit einem Bleistift der Härte
HB gezeichnet, danach kamen die Härten H2 und H3 dazu, in
denen bis heute alle Schraffuren ausgeführt werden. Das
Papier war beliebig, je schwerer desto besser, reinweiß lieber
nicht, ganz am Anfang waren es die Rückseiten von Einladungskarten,
die übrig geblieben waren, seit längerem entstehen
die Zeichnungen auf einem 300 Gramm schweren Foto-Kopier-Karton.
Auf manchen Bildstreifen kann man Omar Sheriff beim Zeichnen
zusehen. Auf manchen Bildstreifen kommt er zu spät und die
Geschichten haben sich von selber entwickelt. Geschichten über
die Lückenknüllerkids und für die Lückenknüllerkids.
Kunst für den Hausgebrauch.
Kunst als Hausordnung.
Wolfgang Herzer
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